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Vom Kirchenmädchen zur Klimaseniorin

Rosmarie Wydler-Wälti hat mit den Klimaseniorinnen die erste Klimaklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewonnen. Das Urteil polarisiert total. Wir haben Wydler-Wälti besucht.

Rosmarie Wydler-Wälti steht in ihrem lichtdurchfluteten Wohnzimmer, in der Sonne sieht man den Staub auf den Fenstern. «Ich hatte lange keine Zeit zu putzen», sagt sie entschuldigend. Das ist nicht verwunderlich, die letzten Wochen waren turbulent. Denn Rosmarie Wydler-Wälti ist Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen. Seit die Klimaseniorinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die erste Klimaklage weltweit gewonnen haben, ist ihr Gesicht in allen Medien.

Dabei steht Wydler-Wälti eigentlich nicht gerne im Rampenlicht. Als Jugendliche ist sie schüchtern, erst später beginnt sie, ihre Meinung öffentlich kundzutun. Doch nicht, um sich selbst in den Vordergrund zu rücken: «Ich bin das Gesicht, aber es geht nicht um mich. Es geht um die Sache», sagt sie zu ihrer aktuellen Medienpräsenz.

Damit könnte eigentlich alles gesagt sein. Doch dann würde man eine Geschichte verpassen. Es ist die Geschichte einer Frau, die vom braven Kirchenmädchen zuerst Mutter, dann AKW-Gegnerin, Feministin, Friedenskämpferin und schliesslich auch Klimaaktivistin wird. Und die – bis heute – alle diese Themen in sich vereint.

Die 1970er-Jahre politisieren sie

Aufgewachsen ist Wydler-Wälti in Basel, in einem kleinbürgerlichen Haushalt direkt neben der Birs. Sie engagiert sich in der Kirche, im Chor lernt sie ihren heutigen Ehemann, den ehemaligen Grossrat Christoph Wydler (EVP), kennen. Sie arbeitet als Kindergärtnerin, will eigentlich berufstätig bleiben. Doch als sie mit 23 Jahren ungeplant schwanger wird, entscheidet sie sich, ihren Beruf zu pausieren. «Zwölf Jahre lang war ich ausschliesslich Mutter unserer vier Kinder», sagt sie.

Wobei «ausschliesslich» untertrieben ist. Wydler-Wälti wird nie zur traditionellen Hausfrau. In den 1970er-Jahren nehmen die Anti-AKW- und die feministische Bewegung Fahrt auf. Sie beginnt, sich politisch zu engagieren. Sie demonstriert auf dem Barfüsserplatz gegen Nestlés Milchpulverskandal und in Davos gegen das World Economic Forum (WEF). Im Quartierverein setzt sich Wydler-Wälti für die erste verkehrsberuhigte Strasse ein. Die Kinder nimmt sie oft an Veranstaltungen mit. Von Mitstreiterinnen erntet sie aber auch Kritik: «Sie sagten, als Feministin sollte ich arbeiten. Aber ich arbeitete ja. Ich war Mutter.»

Und während Wydler-Wältis politische Überzeugungen geschärft werden, verändert sich auch ihr Glaube. Sie bekenne sich zwar immer noch zum Christentum, sei jedoch auch inspiriert von der buddhistischen Spiritualität, sagt sie. Ihr letztes Flugzeug besteigt sie 2010. Sie fliegt nach Tibet, um den für Hindus und Buddhisten heiligen Berg Kailash zu umrunden. Achtsamkeit allen Lebewesen gegenüber, Ehrlichkeit und Gelassenheit: Sie könnten auch in der Bibel stehen. Den Buddhismus sieht Wydler-Wälti als Ergänzung zu ihrem christlichen Glauben.

Die Klimaseniorinnen werden von allen unterschätzt

Und dann, vor acht Jahren, beginnt, was in Strassburg mit einem Sieg endet. Mittlerweile Grossmutter, engagiert sie sich beim Verein Grossmütterrevolution. 2016 wird der Verein von Greenpeace angefragt, um gemeinsam die Schweiz wegen mangelndem Klimaschutz zu verklagen. Die Chance auf eine Verurteilung setzt eine persönliche Betroffenheit voraus und alte Frauen sind von Hitzewellen besonders gefährdet.

Daraufhin gründen hundertfünfzig Frauen die Klimaseniorinnen. Gemeinsam mit Anne Mahrer, Altnationalrätin der Grünen, wird Wydler-Wälti Co-Präsidentin. Der Verein klagt in der Schweiz auf allen drei Instanzen, alle Klagen werden abgelehnt. Dann zieht er den Fall weiter an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.

Rosmarie Wydler-Wälti (rechts) und Anne Mahrer (links) nach dem Sieg in Strassburg. In der Mitte ist Claudia Duarte Agostinho, die ebenfalls eine Klimaklage eingegeben hat, jedoch verlor.Foto: Jean-Christophe Bott

Dass die Klimaseniorinnen gewinnen, hätte niemand geglaubt. Eine Handvoll alter Frauen, die die Schweiz verklagen wollen, wirken ungefährlich. Wydler-Wälti hat die Hoffnung aber nie aufgegeben. Dass die Schweiz die Klagen abgelehnt hat, habe sie empört. «Daraus habe ich Energie gezogen, weiterzumachen», sagt sie. Dann häufen sich die Hinweise, dass die Klimaseniorinnen doch erfolgreich sein könnten. Plötzlich stehen sie in der Weltöffentlichkeit.

Für Familie und Haushalt bleibt nach dem Sieg wenig Zeit

Mit der Aufmerksamkeit nehmen nicht nur die Unterstützung, sondern auch die Hassnachrichten zu. Sie nimmt die meisten Nachrichten mit Gelassenheit, hat sogar einen Lieblingshassbrief: «Euch hätte man früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt», schrieb einer. Für Wydler-Wälti ein Kompliment: «Hexen waren starke, machtvolle Frauen. Sie wurden umgebracht, weil die Männer Angst vor ihnen hatten. Aber heute können wir nicht mehr einfach umgebracht werden», sagt sie.

Doch obwohl Wydler-Wälti humorvolle Anekdoten aus diesen Briefen erzählt, nimmt sie sich ernst gemeinte Kritik zu Herzen. Einer schreibt, ihre Generation sei schuld an der Klimakrise und deshalb sei ihr Engagement heuchlerisch, erzählt sie. Sie schreibt zurück, dass es stimme, dass ihre Generation die Klimakrise zu verantworten hat. «Wir haben konsumiert, ohne zu wissen, was die Folge davon ist. Aber gerade deshalb haben wir auch die Verantwortung, uns heute für den Klimaschutz einzusetzen», findet Wydler-Wälti. Am liebsten würde sie allen Brief- und Mailschreibenden antworten, ihre Weltsicht und Beweggründe erklären.

Rosmarie Wydler-Wälti (Mitte) und Anne Mahrer (links) geben nach der Urteilsverkündung in Strassburg Interviews für Medien aus der ganzen Welt.Bild: Jean-Christophe Bott

Dafür bleibt ihr aber keine Zeit. Denn Langeweile kennt Wydler-Wälti seit dem Sieg in Strassburg nicht mehr. Bald begleitet sie eine Delegation der Grünen erneut nach Strassburg, dann fährt sie an eine Konferenz nach Österreich. «Wenn es zu viel ist, gebe ich aber auch Aufgaben ab. Ich muss zu mir schauen, damit ich weiterkämpfen kann», sagt sie. «Zum Glück unterstützt mein Mann mich sehr», sagt sie. Dass sie mittlerweile berühmter ist als er, freue ihn.

Zum Haushalt kommt sie trotzdem fast nicht und auch für die Familie bleibt wenig Zeit. Sie würde gerne bald ihre Enkel wiedersehen, dann will sie ein Fotoalbum fertigstellen und Ferien will sie auch bald wieder machen. Das Leben von Wydler-Wälti scheint noch einiges bereitzuhalten. «Wir haben allen gezeigt, dass Omas noch viel mehr können als Kinder hüten und Kuchen backen», sagt sie und zwinkert schelmisch.

https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/aktivistin-vom-kirchenmaedchen-zur-klimaseniorin-wer-ist-die-baslerin-deren-erfolg-die-halbe-schweiz-zur-weissglut-treibt-ld.2606199

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