In einer eigenen Session stimmen Personen mit Migrationshintergrund über Vorschläge ab und geben angenommene Ideen an die Basler Regierung weiter.
«In Syrien war ich nicht politisch engagiert, denn es hätte sich sowieso nichts geändert. In der Schweiz ist es anders», sagt Rstam Aloush. «Hier habe ich das Gefühl, dass meine Stimme zählt.» Aloush, Kurde und seit zehn Jahren in der Schweiz, sagt das, obwohl er keinen Schweizer Pass und somit kein Stimm- und Wahlrecht hat.
Doch er engagiert sich seit 2019 bei der Migrant*innensession in Basel, mittlerweile ist Aloush Vorstandsmitglied: «Ich möchte verstehen, wie das Land funktioniert und womit sich die Bevölkerung beschäftigt. Für mich ist diese Session eine Möglichkeit der Vernetzung und der politischen Bildung.»
Afi Sika Kuzeawu kommt ursprünglich aus Togo. Sie hat ebenfalls keinen Schweizer Pass, lebt aber seit mehreren Jahren in der Schweiz und will einen beantragen, weil sie sich als Teil der Schweizer Gesellschaft sieht. Kuzeawu ist zum ersten Mal bei der Session dabei: «Es fühlt sich super an. In kurzer Zeit kann ich etwas machen, was hoffentlich Einfluss auf das Leben der Menschen haben wird. Ich kann konkret etwas aussprechen, das ist sehr befreiend und erfüllend.»
Die Migrantinnen und Migrantensession beider Basel ist ein Projekt des Vereins Mitstimme. Gegründet wurde sie 2015. Am Samstag, 28. September, findet die vierte Durchführung statt. Im Rahmen der Veranstaltung erarbeiten Migrantinnen und Migranten mit und ohne Schweizer Pass in kleinen Arbeitsgruppen diverse Ideen und Verbesserungsvorschläge zu gesellschaftlichen Themen. Dabei werden sie von Basler Politikerinnen und Politikern begleitet.
Die Vorschläge stammen aus der Lebensrealität der Migrantinnen und Migranten, nützen aber oft der gesamten Gesellschaft. 2022 wurde beispielsweise ein Vorstoss eingereicht, wie es möglich wäre, die Sichtbarkeit von preisgünstigen Kulturangeboten zu erhöhen.
In Workshops lernen die Teilnehmenden mehr über das politische System der Schweiz, aber auch beispielsweise zu Auftrittskompetenz und politischer Arbeit. Die ausgearbeiteten Vorschläge präsentieren und diskutieren sie an einer parlamentarischen Session, verabschieden diese und geben angenommene Vorschläge an die Politik weiter.
Mitglieder aller Parteien beteiligen sich am Projekt
Man könnte meinen, dass die Teilhabe von Migrantinnen und Migranten am politischen System ein linkes Anliegen sei. Kürzlich wurde im Grossen Rat ein Stimmrecht für Einwohnerinnen und Einwohner Basels, die keinen Schweizer Pass haben, beschlossen.
Wenn der Vorschlag von der Stimmbevölkerung angenommen wird, könnten bald alle Ausländerinnen und Ausländer, die seit mindestens fünf Jahren im Kanton wohnen und eine Aufenthaltserlaubnis C aufweisen, auf Kantons- und Gemeindeebene mitbestimmen. Die bürgerlichen Parteien waren dagegen, getragen wurde die Forderung von Links-grün und der GLP.

Doch bei der Session sind auch die bürgerlichen Parteien engagiert. «Die Überparteilichkeit ist Kern des Projekts», sagt Projektleiterin Leila Knotek. «Die Session ist nicht an das Einwohnerinnen- und Einwohnerstimmrecht gebunden.»
Das betonen auch die Parteien: «Das Projekt ist wichtig und in keiner Weise ein ‹linkes› Anliegen, wir gehen es nur nicht ganz gleich an», meint LDP-Grossrat Philip Karger. «Für mich steht die politische Mitbestimmung am Ende des Integrationsprozesses, dessen Höhepunkt die Einbürgerung ist», erklärt FDP-Grossrat Luca Urgese, der bereits zum zweiten Mal an der Session teilnehmen wird.
Ähnlich sieht es SVP-Grossrat Pascal Messerli: «Wir als SVP fordern explizit, dass sich Migrantinnen und Migranten für unsere Demokratie interessieren und sich integrieren. Dann ist es für mich auch eine Selbstverständlichkeit, mit Menschen in Kontakt zu treten, welche genau das machen wollen.» Er habe innerhalb des Projekts auch einige Menschen kennengelernt, die auf der Linie der SVP seien.
Ein Austausch trotz unterschiedlicher Meinungen
Aloush ist keiner davon: «Ich werde kaum Mitglied der SVP, ihre Ideologie passt nicht zu meiner.» So ist er für das Stimmrecht für Einwohnende ohne Schweizer Pass: «Die Pharmafirmen in Basel stellen Mitarbeitende aus der ganzen Welt ein, weil sie ihre Kompetenzen schätzen. Diese Vielfalt könnte auch politisch helfen, die Schweiz zu verbessern.»
Doch auch wenn Aloush und Kuzeawu mit den Bürgerlichen nicht in allen Punkten übereinstimmen, schätzen sie den Austausch mit allen Parteien: «Wenn bei meinem Gegenüber die Bereitschaft für ein Gespräch besteht, gehe ich gerne darauf ein, auch wenn die Person eine andere politische Meinung hat. Dann gehen beide Seiten transformiert aus dem Gespräch heraus», meint Kuzeawu. Und Aloush ergänzt: «Es ist schön, dass das politische System in der Schweiz so funktioniert.»

Welcher Partei Aloush und Kuzeawu sich zuordnen würden, wissen sie nicht. Aloush möchte aber irgendwann einmal Politiker werden. Das brauche noch etwas Zeit, er fühlt sich noch nicht reif dafür. «Ich könnte mir vielleicht vorstellen, eine eigene Partei zu gründen», meint Kuzeawu lachend.
Sie verbringe viel Zeit mit Nachdenken darüber, wie eine andere Gesellschaft funktionieren könnte, und habe eine bestimmte Philosophie für eine optimale Gesellschaft: «Ziel davon ist, dass Menschen sich frei entfalten können. Die Ressourcen der Arbeitswelt sollten dahin fliessen, wo sie den Menschen nützen. Das wäre psychisch, aber auch ökonomisch sinnvoller», meint Kuzeawu, die Volkswirtschaftslehre, Psychologie und Musik studiert hat und heute als selbstständige Karriereberaterin und Künstlerin arbeitet.
Ausgehend von ihrer Philosophie und ihrer beruflichen Erfahrung hat Kuzeawu im Projekt eine Arbeitsgruppe zu psychischer Gesundheit und Migration gegründet. Ihr Anliegen: ein Ausbau der Massnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit von Migrantinnen und Migranten.
Die Gruppe wird den Vorschlag bei der nächsten Session den anwesenden Politikerinnen, Politikern, Migrantinnen und Migranten unterbreiten. Wenn er angenommen wird, dürfte sich bald der Regierungsrat damit befassen. Und falls dieser dem Vorschlag auch zustimmt, hat Kuzeawu ein kleines Stück Basler Politgeschichte mitgeschrieben – auch ohne Schweizer Pass.