Rosmarie Hubschmid leitet das Frauenhaus Aargau-Solothurn. Sie sei schockiert, wie öffentlich manche Männer ihren Frauenhass ausdrücken, erzählt sie im Interview. Doch die Angst vor einem gesellschaftlichen Rückschritt könne man nutzen, um sich zu engagieren.
Momentan findet die jährliche Präventionskampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt. Während der Aktionstage wird geschlechtsspezifische Gewalt in Podiumsdiskussionen, Theatern, Selbstverteidigungskursen, Workshops oder Strassenaktionen schweizweit thematisiert. Rosmarie Hubschmid ist die Geschäftsleiterin des Frauenhauses Aargau-Solothurn und setzt sich deswegen tagtäglich mit der Thematik auseinander – wir treffen sie an ihrem Arbeitsplatz, dessen Standort geheim ist.
Frau Hubschmid, die Kantonspolizei Aargau verzeichnet Jahr für Jahr mehr Einsätze wegen häuslicher Gewalt. Bei der Kantonspolizei Solothurn nehmen die Straftaten in Bezug auf häusliche Gewalt ab. Gibt es bezüglich häuslicher Gewalt einen Rückschritt oder einen Fortschritt in der Gesellschaft?
Rosmarie Hubschmid: Das kann ich nicht so pauschal beantworten. Wir haben mehr Angebote für Gewaltbetroffene und für Täter, das ist ein Fortschritt. Das Thema ist in der Öffentlichkeit präsenter als früher. Und auch die Polizei ist im Umgang mit häuslicher Gewalt sensibilisierter. Man vermittelt nicht mehr, sondern ermittelt. Das ist ein grosser Paradigmenwechsel.
Was meinen Sie damit?
Früher war es so, dass die Polizei versucht hat, bei einem Einsatz wegen häuslicher Gewalt zwischen Täter und Opfer zu vermitteln. Dahinter steckte die gesellschaftliche Vorstellung, dass es ein privates Problem ist und dass beide gleichermassen schuld wären, wenn es eskaliert. Heute werden die gewaltausübende und die gewaltbetroffene Person getrennt befragt und man sichert Spuren, das wurde früher oft nicht gemacht.
Trotzdem scheint ständig ein Rückschritt zu drohen. Der US-amerikanische rechtsextreme Aktivist Nick Fuentes sagte nach der Trump-Wahl zu Frauen «Your body, my choice. Forever.» Auch in der Schweiz feiern viele Männer dieses Gedankengut. Gehen wir wieder zurück in eine Zeit, wo Frauen als Besitz des Mannes galten?
Ich glaube nicht, dass wir zurückgehen, sondern dieses Gedankengut war nie ganz weg. Ich bin ziemlich schockiert, wie unverblümt solche Dinge in aller Öffentlichkeit gesagt werden können. Die Männer, die so etwas sagen, fühlen sich benachteiligt. Dabei haben Männer im gesamten System immer noch einen besseren Stand als Frauen. Aber sie fühlen sich vom gesellschaftlichen Fortschritt bedroht, weil wir Frauen uns einen Teil der Macht nehmen, und sie wollen diese Macht nicht abgeben.
Üben Sie selber Gewalt gegen andere aus?
Verlassen Sie das Haus, bevor Sie gewalttätig werden.
Vereinbaren Sie ein Beratungsgespräch bei der Anlaufstelle gegen häusliche Gewalt, AHG 062 550 20 20 (Kanton Aargau) oder bei der Beratungsstelle Gewalt 032 627 29 92 (Kanton Solothurn)
Laden Sie das Merkblatt für Männer unter Druck herunter.
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ahg-aargau.ch
Sprechen Sie mit einer Person, der Sie vertrauen.
Oft machen solche Männer feministischen Frauen den Vorwurf, dass sie ihr Leid nicht anerkennen würden. Sie sagen, dass auch Männer gewaltbetroffen sind und dass Männer eine viel höhere Suizidrate haben als Frauen.
Dem kann ich nicht widersprechen, das sind Fakten. Es stört mich einfach, wenn das immer als Argument gebracht wird. Wollen wir einen Wettbewerb machen, wer mehr umgebracht und misshandelt wird?

Aber Gewalt an Männern existiert.
Genau, Männer erleben auch Gewalt. Sie erleben Gewalt in Beziehungen, beispielsweise von ihren Partnerinnen. Aber sie erleben auch Gewalt von anderen Männern. Das Thema ist sehr tabuisiert, weil es mit dem Männerbild zusammenhängt. Männer gelten als Versorger der Familie, müssen stark wirken und eine hohe Stellung in der Gesellschaft einnehmen. Dazu gehört auch, den eigenen Status mit Gewalt zu verteidigen, zum Beispiel in einer Schlägerei. Was ich auch ganz furchtbar finde, ist übrigens die Überzeugung, dass man Frauen auf Händen tragen muss.
Das könnte man doch auch positiv verstehen, was stört Sie daran?
Ich muss nicht getragen werden, ich habe zwei Füsse zum Laufen. Auch ich werde gerne verwöhnt, aber ich möchte auch verwöhnen können. Das wäre eine gleichberechtigte Beziehung.
Sind eine Frau auf Händen zu tragen und sie zu erniedrigen vielleicht zwei Seiten der gleichen Medaille? Ein Mann verwöhnt seine Frau und wenn sie dann nicht das macht, was er verlangt, sagt er ihr «ich tue alles für dich und du bist so undankbar»?
Ja, das erzählen viele Frauen, die ins Frauenhaus kommen. Oft entsteht eine Dynamik, die zwischen Misshandlung und Wiedergutmachung abwechselt. Der Täter entschuldigt sich, macht dem Opfer Geschenke oder der Sex ist nach der Eskalation besonders gut. Dadurch ist es für Betroffene schwierig, sich abzugrenzen.
Wo beginnt eigentlich Gewalt?
Gewalt beginnt dort, wo die Grenze des Gegenübers überschritten wird. Dazu gehört auch psychische Gewalt, also wenn der Partner immer wieder Dinge sagt wie «du bist fett» oder «du bist eine schlechte Mutter». Oder wenn er seiner Partnerin verbietet, Freundinnen oder die Familie zu treffen.
Sind Sie von häuslicher Gewalt betroffen?
Wenden Sie sich an die Opferberatungsstelle Ihres Kantons.
Opferberatungsstelle Kanton Aargau: 062 835 47 90
Opferberatungsstelle Kanton Solothurn: 062 311 86 66
Melden Sie sich beim Frauenhaus (24h): 062 823 86 00
Rufen Sie die Polizei: 117
Melden Sie sich beim Sorgentelefon: 143
Weitere Informationen finden Sie auf den Kantonswebseiten von Aargau und Solothurn.
Wie viele Frauen im Frauenhaus gehen zurück zu ihrem gewaltvollen Partner?
Ungefähr ein Viertel. Das klingt nach viel, aber wenn eine Frau zurück in die gewaltvolle Beziehung geht, ist das nur eine Momentaufnahme. Viele schaffen es später, ein solcher Schritt ist nicht für alle gleich leicht. Viele Betroffene wollen nicht die Beziehung beenden, sondern dass die Gewalt endet.
Am 25. November startete die internationale Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Das Thema der diesjährigen Kampagne ist «Wege aus der Gewalt». Wie kommt man denn aus der Gewalt heraus?
Am besten wenn die gewaltausübende Person aufhört. Das muss ich einfach einmal sagen, denn das wird oft vergessen: Es wäre am Täter, sein Verhalten zu ändern.
Und wie schafft es eine gewaltbetroffene Person?
Indem sie sich jemandem anvertrauen kann: Beispielsweise einer Freundin, einer Verwandten oder der Beratungsstelle. Gewaltbetroffene Personen brauchen eine Ankerperson, mit der sie reden können, ohne gleich verurteilt zu werden. Man sollte Gewaltbetroffene nicht sofort unter Druck setzen, sich zu trennen, denn die meisten Tötungsdelikte im Rahmen häuslicher Gewalt passieren nach einer Trennung oder wenn ein Trennungswunsch geäussert wird.
Oft hat man in der Schweiz das Gefühl, Gewalt gegen Frauen sei das Problem der anderen. Sind Ausländer wirklich gewalttätiger als Schweizer?
Ich glaube, es gibt Kulturen, in denen ein problematisches Frauenbild stärker verbreitet ist. Man hilft den Betroffenen nicht, wenn man das einfach ignoriert. Aber man sollte das nicht für politische Zwecke missbrauchen oder arrogant werden. Ich habe 1988 die Ausbildung zur Sozialarbeit angefangen, da wurde das neue Ehegesetz eingeführt. 1988! Das Frauenstimmrecht kam 1972, da war ich sieben Jahre alt! Das ist so ein Blödsinn, wenn Leute sagen, wir hätten dieses Denken überwunden.
Aber gibt es im Frauenhaus mehr Frauen mit Migrationshintergrund oder nicht?
Wir haben mehr Frauen mit Migrationshintergrund, aber die gewalttätigen Männer sind oft auch Schweizer. Wir hatten einen Fall, wo ein Schweizer Mann drei ausländische Frauen nacheinander heiratete, und alle seine Frauen landeten irgendwann bei uns im Frauenhaus. Ausserdem gibt es einen Unterschied zwischen dem Frauenhaus und den Beratungsstellen.
Welcher?
Bei den Opferberatungsstellen gibt es mehr Schweizerinnen als im Frauenhaus. Sie haben aber meistens ein besseres Umfeld, das sie auffangen kann. Die Frauen im Frauenhaus sind in der Schweiz oft isoliert, sie haben keine Verwandten, keine Freunde, kein Netz.

Ich würde gerne noch auf die politische Komponente eingehen. Am Sonntag demonstrierten die Juso Solothurn und die Juso Aargau gemeinsam für eine bessere Finanzierung des Frauenhauses. Sie fordern schon länger, dass der Kanton einen Sockelbeitrag zahlt und nicht eine Pauschale pro Klientin. Wieso ist das wichtig?
Weil wir ein 24-Stunden-Betrieb sind. Mit der Pauschalvergütung erhielten wir 2024 für jede Frau und jedes Kind 311 Franken pro Tag, der Beitrag ändert jährlich. Das führt zur paradoxen Situation, dass es uns finanziell besser geht, je mehr Gewaltbetroffene zu uns kommen. Diese Art der Finanzierung berücksichtigt nicht, dass wir unabhängig von der Auslastung rund um die Uhr hier sein müssen. 2024 rechnete der Kanton Aargau, mit dem wir den Hauptvertrag haben, mit einem Budget von 1,7 Millionen Franken bei einer Vollbelegung. Weil wir aber nie voll belegt sein können, erhalten wir effektiv weniger Geld.
Was würde denn der Sockelbeitrag bedeuten?
Dass wir neben der Tagespauschale auch die Bereithaltungskosten für den 24-Stunden-Betrieb, die Präventionsarbeit und die Schulungen erhalten. Wir sind eine Kriseninterventionseinrichtung, deshalb liegt unsere volle Auslastung bei 75 Prozent. Die restlichen 25 Prozent brauchen wir, um Notfälle aufnehmen zu können.
Wie sehen Sie die Chancen, dass sich die Finanzierung in Zukunft ändert?
Wir sind mit den Kantonen Solothurn und Aargau im Gespräch, und sie sind nicht mehr so abgeneigt. Ich finde, bis 2026 sollte das umgesetzt werden. Zwar erleben wir einen grossen Respekt vonseiten der Politik und der Gesellschaft, aber das möchte ich auch in unseren Finanzen sehen. Das können Sie ruhig so zitieren. Man muss uns nicht bewundern. Was wir brauchen, ist eine anständige Finanzierung.
Zur Person
Rosmarie Hubschmid leitet das Frauenhaus Aargau-Solothurn. Die ausgebildete Sozialarbeiterin ist 59 Jahre alt und wohnt im Kanton Aargau. Ursprünglich stammt sie aber aus Basel, den Dialekt hört man ihr auch ab und zu noch an.
Um sich zu entspannen, geht Hubschmid nicht etwa spazieren, sondern schaut Actionfilme und hört laute Musik. «Actionfilme sind so absurd, das finde ich lustig», sagt sie. Musikalisch mag sie Hip-Hop, vor allem der US-amerikanische Rapper Common hat es ihr angetan.
Der Bund plant eine dreistellige nationale Notfallnummer, die bei häuslicher Gewalt angerufen werden kann. Sie soll bis November 2025 in Betrieb genommen werden.
(lacht)
Wieso lachen Sie?
Die Nummer sollte bis dann in Betrieb sein, mit Betonung auf sollte.
Sind Sie nicht so optimistisch?
Zuerst muss geklärt werden, wer in den Kantonen die Nummer betreut. Wie bei der Feuerwehr oder Ambulanz sollte man je nach Aufenthaltsort eine Stelle im jeweiligen Kanton erreichen. Wir vom Frauenhaus machen das jedenfalls nicht, wir haben genug zu tun. Aber die Zeit, diese Nummer bis November 2025 umzusetzen, finde ich sehr knapp.
Okay, aber irgendwann kommt die Nummer. Erleichtert Ihnen das die Arbeit?
Das ist eine gute Frage, das wissen wir noch nicht. Die Polizei wird in vielen Fällen trotzdem direkt bei uns anrufen, weil sie einen Platz für eine gewaltbetroffene Person sucht. Aber die Nummer ist sicher gut für Personen, bei denen man zuerst schauen muss, was sie brauchen. Ich begrüsse, dass sie eingeführt wird.
Zwei persönliche Fragen zum Schluss: Sie arbeiten tagtäglich mit Frauen, die schlimme Gewalt erlebt haben. Wie oft denken Sie beim Einschlafen darüber nach, was diesen Frauen passiert ist?
Nicht viel. Wenn eine Situation akut ist, kommt es vor, dass sie mich ins Wochenende begleitet. Ich finde das auch okay. Wenn wir eine neue Person einstellen, fragen wir jeweils, wie gut sie sich abgrenzen kann. Wenn dann jemand sagt, sie habe überhaupt kein Problem mit der Abgrenzung, frage ich mich, ob die Person für die Arbeit bei uns geeignet ist.
Wieso?
Es stellt sich die Frage, ob sie sich genug auf die Betroffenen einlassen kann. Das bedingt einander. Ich muss in diesem Job auf Distanz gehen können, denn es bringt der Klientin nichts, wenn ich ein Häuflein Elend bin. Aber ich muss auch mit ihr in Beziehung treten können. Ich muss zulassen, dass mich ihre Geschichte berührt.
Eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie einen Tipp haben, wie man sich abgrenzen kann. Vielen Menschen machen die gesellschaftlichen Entwicklungen, über die wir zu Beginn gesprochen haben, Angst und sie fühlen sich hilflos.
Die Frage ist: Warum will man sich abgrenzen? Mir macht der Frauenhass auch Angst. Aber man kann Angst auch überwinden oder sie umwandeln und für sich nutzen. Man kann sich zum Beispiel einer Gruppe anschliessen und sich engagieren. Vor vier Jahren habe ich einen Brief von einem ehemaligem Frauenhauskind erhalten. Er schrieb, dass er jetzt Jurist sei und sich für Betroffene einsetze. Solche Momente sind für mich toll, denn sie zeigen: Es geht weiter.