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Welchen Wert haben Quartierläden?

Ein Soziologe erzählt, wieso gerade migrantische Gemeinschaften wichtig für die Quartierentwicklung sind.

Der Soziologe Peter Streckeisen unterrichtet an der Universität Basel und ist Professor an der Fachhochschule für soziale Arbeit in Zürich (ZHAW). Dort forscht er unter anderem im Bereich Community Development und Quartierentwicklung.

Herr Streckeisen, welchen Nutzen haben Quartierläden für eine Stadt wie Basel?

Peter Streckeisen: Es gibt verschiedene Aspekte, die in diesem Zusammenhang spannend sind. Der erste Aspekt ist die Quartierentwicklung: Kleine Läden sind Teil einer Grundversorgung, die wichtig ist für die Standortqualität eines Quartiers. Insbesondere für mobilitätseingeschränkte Personen, aber auch für alle anderen, sind solche Läden wichtig.

So wie früher die Tante-Emma-Läden? Mir scheint, diese haben früher viel zu einem lebendigen Quartierleben beigetragen.

Genau, die Tante-Emma-Läden sind verschwunden, dafür haben die Quartierläden ihren Platz eingenommen. Natürlich hatten die Tante-Emma-Läden andere Öffnungszeiten als Quartierläden, die oft bis 22 Uhr geöffnet sind. Aber die Quartierläden haben hier eine Lücke gefüllt. Was geschieht, wenn diese Lücke nicht gefüllt wird, sieht man auf dem Land: Das Verschwinden von Einkaufsmöglichkeiten wird oft als einer der Gründe für den Niedergang oder die Krise eines Dorfs thematisiert. Im Ausland sieht man solche Situationen auch in grösseren Städten.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel in den USA. Im Süden von Chicago ist die Armut hoch und der grösste Teil der Bevölkerung ist Schwarz. Doch das Schwarze Ghetto es war früher ein lebendiges Quartier, mit Geschäften, Poststellen und Banken. Aufgrund der neoliberalen Politik, die zu einem Rückzug des Staates und einem starken Anstieg von Erwerbslosigkeit und Armut führte, brach die Versorgungsinfrastruktur fast weg. Solche Situationen haben wir in der Schweiz nicht.

Serie Quartierläden von Lisa: Weiter Fotos von Safi Coffee an der Schönaustrasse 30.

In Basel-Stadt ist die Dichte der Quartierläden ja gerade in migrantisch geprägten Quartieren mit tieferem Lebensstandard höher als in privilegierten Quartieren.

Das führt zum ökonomischen Aspekt. Gewisse Wirtschaftsbereiche sind stark durch die Präsenz gewisser migrantischer Gruppen aus bestimmten Herkunftsregionen oder Ländern geprägt, zum Beispiel der Bau oder eben auch Quartierläden. Das wird auch als Ethnic Business bezeichnet: Die Stadt Zürich hat 2008 eine Studie darüber veröffentlicht. Die Arbeit mag zwar prekär sein, doch diese Branchen sichern das Überleben dieser Gruppen. Und grosse Unternehmen nutzen dieses Phänomen mitunter aus. Beispielsweise werden Coop Pronto oder Migrolino Läden nicht selten durch migrantische Familien und Netzwerke betrieben.

Aber die Quartierläden rentieren ja nur, weil die Besitzenden sehr wenig verdienen. Migrantinnen und Migranten beuten sich dafür selbst aus.

Aber die Angehörigen dieser migrantischen Gruppen verfügen in vielen Fällen kaum über Zugänge zu besseren Jobs. Auch ihre Ansprüche auf Sozialleistungen sind tiefer als jene der Durchschnittsbevölkerung.

Portrait von Peter Streckeisen, er unterrichtet an der Universität Basel Soziologie und ist Professor an der Fachhochschule für soziale Arbeit in Zürich (ZHAW)

Sie haben also keine andere Wahl, als unter prekären Bedingungen zu arbeiten?

Die Frage ist ja: Was wäre ihre Alternative? Bei der Wahl ihrer Arbeit orientieren sie sich nicht nur an persönlichen Vorlieben und Lebensstil, sondern schlicht an der Notwendigkeit und den Möglichkeiten ihrer sozialen Position. Zugleich verfügen diese Migrantinnen und Migranten vermutlich in zahlreichen Fällen über grössere familiäre und verwandtschaftliche Strukturen, die Unterstützung leisten können, zum Beispiel durch Mitarbeit im Laden.

Oft sind solche Läden ja auch Treffpunkte, gerade für verschiedene migrantische Gemeinschaften.

Genau, aber nicht nur für diese Gemeinschaften, sondern für das ganze Quartier. In Quartierläden geht man nicht nur einkaufen, sondern man trifft sich und redet. Genauso wie Kioskverkäuferinnen und Kioskverkäufer sind Besitzerinnen und Besitzer von Quartierläden Schlüsselpersonen im Quartier. Sie sind wichtige Punkte in einem Netzwerk, kennen viele und wissen, was im Quartier läuft.

Damit kommt man ja eigentlich wieder zum Anfang zurück: Quartierläden nützen dem Quartier.

Sie haben eine zentrale Funktion im städtischen Leben. Aber Schweizerinnen und Schweizer wollen solche Läden nicht mehr selbst führen. Damit kommen wir zum letzten Aspekt: Ohne den Beitrag von migrantischen Gemeinschaften könnte auch in der Schweiz diese zentrale Funktion wegbrechen. Für dieses Phänomen gibt es in den Gesellschaftswissenschaften den Begriff der postmigrantischen Gesellschaft.

Was bedeutet der Begriff?

Er bezeichnet eine Gesellschaft, die durch mehrere Generationen von Zuwanderung geprägt ist. Gerade Städte sind Orte, wo das besonders präsent ist. Italienische Restaurants sind ein Beispiel aus der Vergangenheit dafür. Früher trafen sich dort nur Italienerinnen und Italiener, heute essen dort alle, und diese Restaurants sind nicht mehr aus der Schweiz wegzudenken. Bei Quartierläden könnte das gleiche passieren. Dadurch werden solche Läden zum selbstverständlichen Bestandteil unserer Gesellschaft.

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