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Martin Luther King, Sophie Scholl und die Coronaproteste

Die derzeit oft gesehenen Demonstrationen von sogenannten Coronaleugner*innen kommen mit einer gewissen revolutionären Symbolik daher. Im Anschluss an unseren letzten Beitrag stellt sich nun denn die Frage: Lassen sich die Protestbekundungen gegen die Coronamassnahmen als zivilen Ungehorsam verstehen? Und wenn ja, sind sie deshalb legitim? 

Es ist eine gruselige Formation, die hier durch Bern zieht. Menschen in weissen Schutzanzügen und mit Masken trotten durch die Innenstadt. Aus einer Stereoanlage klingt eine blecherne Stimme. «Unser Atem tötet. Sicher bist du nur in der Isolation. Fügt euch der Normalität. Verratet eure Nachbarschaft. Maskenpflicht ein Leben lang. Umerziehungslager für Maskenverweigerer.» Dass diese Aktion an die Dystopie «1984» von George Orwell erinnert, scheint gewollt. Die Kommentare auf YouTube weisen darauf hin, dass das die Zukunft sein werde, wenn man nicht aufpasst. Es ist offensichtlich: Das ist eine Protestaktion von Coronaleugner*innen. 

Diese Demonstrationen finden regelmässig statt, in verschiedenen Schweizer und Deutschen Innenstädten. Das Medium könnte überraschen, denn wer die Aktionen von Extinction Rebellion kennt, fühlt sich vielleicht irgendwie daran erinnert. Nur ist Extinction Rebellion für Klimaschutz auf der Strasse. Die Coronaleugner, weil sie glauben, in einer Diktatur zu leben. 

«Ich fühle mich wie Sophie Scholl»

Etwas wichtiges vorweg: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Coronaleugner*innen und Extinction Rebellion. Die Gründe, weshalb diese Gruppen auf die Strasse gehen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Das einzige, was sie verbindet, ist die Überzeugung, gegen Unrecht vorzugehen. Nur haben Extinction Rebellion die Wissenschaft auf ihrer Seite, die belegt, dass der Klimawandel echt ist. Die Coronaleugner*innen haben meist keine echten Belege für ihre Behauptungen. 

Trotzdem gibt es eine Ähnlichkeit im Auftreten dieser zwei Gruppierungen. Es ist nicht neu, dass linke Aktionskunst und die typische Symbolik linker Proteste von anderen übernommen werden. Die Unterscheidung von links, mitte und rechts aufgrund äusserlicher Merkmale wie Kleidungsstil oder der Lebensgestaltung ist schwieriger geworden. Auch weil sich ehemals typisch linker Protestgestaltung bedient wird. 

Bei den Coronaprotesten könnte ein Grund dafür sein, dass viele Protestierende ehemals links gewählt haben und sich auch mit typisch linken Themen identifizieren. Diese Information geht auf eine Forschungsarbeit der Universität Basel unter der Leitung von Oliver Nachtwey, Nadine Frei und Robert Schäfer zu den Coronaprotesten zurück. (https://osf.io/preprints/socarxiv/zyp3f/ Stand 22.01.2021) Diese linke Orientierung hat sich mit Corona geändert, der Habitus aber blieb. Vielleicht ist das der Grund, weshalb die Coronaleugner*innen sich einer Protestform bedienen, welche auch als ziviler Ungehorsam charakterisiert werden könnte. Diese Feststellung mag schockieren und sie wirft viele Fragen über die Legitimität des zivilen Ungehorsams auf. Denn kann ein Coronaprotest wirklich mit bekannten Aktivist*innen des zivilen Ungehorsams wie Martin Luther King oder Mahatma Gandhi eingereiht werden? Was würde dies für die Coronaproteste bedeuten und was für den zivilen Ungehorsam? 

Tatsächlich haben einige Coronaleugner*innen die Selbstüberzeugung, in die Fussstapfen des zivilen Ungehorsams glorreich einzutreten. Beispiele wie in Hannover, wo sich eine junge Frau an einer Coronademonstration mit Sophie Scholl verglich, zeigen dies. Als Grund für den Vergleich bezog sich die junge Frau auf die Tatsache, dass sie gleich alt sei wie Sophie Scholl, als diese von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Sophie Scholl hat als Mitglied der Widerstandsgruppe «Weisse Rose» Flugblätter gegen den Nationalsozialismus verteilt und wurde deswegen enthauptet. Die junge Frau an der Querdenker-Demonstration in Hannover ist nach eigenen Angaben seit Monaten im Widerstand. Gegen was, sagt sie nicht, man kann es sich aber denken.

Auch die Aussage eines 11-jährigen Mädchens, welches sich mit Anne Frank verglich, weil es ihren Geburtstag im Geheimen feiern musste, weil zu viele Gäste eingeladen waren, zeigt das Selbstbild vieler Coronaleugner*innen als Erben des zivilen Ungehorsams im Dienste der Humanität. Auch wenn sich das Mädchen vielleicht nicht bewusst war, welche Tragweite ihr Vergleich hat, so haben ihre Eltern sie doch nicht über ihren schlechten Vergleich aufgeklärt. Es liegt nahe, dass die Eltern die Ansicht ihrer Tochter teilen. Für die meisten anderen Menschen sträuben sich bei diesen Vergleichen die Nackenhaare. 

Trotzdem, wenn man Aktionen wie die zu Beginn geschilderte Schutzanzugaktion der Coronaleugner*innen betrachtet, ist kaum zu übersehen, dass diese Aktionen viele Merkmale des zivilen Ungehorsams tragen. Das stellt den zivilen Ungehorsam wie gesagt vor einige Schwierigkeiten. Denn der zivile Ungehorsam bezieht seine Legitimation mitunter auch von den bekannten Beispielen von Freiheitskämpfer*innen, welche grosse Ungerechtigkeit durch den zivilen Ungehorsam bekämpft haben. Wenn nun Coronaleugner*innen in diese Reihen aufgenommen würden, würde das der Glaubwürdigkeit des zivilen Ungehorsams schaden. Die Frage ist also: Sind Aktionen im Rahmen der Coronaproteste ziviler Ungehorsam? 

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